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Im Spagat zwischen den Kulturen…

„Die türkischen Mädchen in Deutschland, die sich gegen die Tradition ihrer Väter auflehnen, riskieren viel, auch ihr Leben. Sie werden in fremden Heimatdörfern verlobt, verheiratet, weggesperrt – oder sie brechen aus wie Fatma und Esma…“

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Schwestern Esma, Fatma: Leiser Aufstand gegen die Alten (Foto: GABY GERSTER)

„Fatma ist im Schwarzwald aufgewachsen, wo das Leben „Schaffen“ hieß und wo hinter zugeputzten Fachwerkfassaden die südtürkischen Dorfstraßen wieder zusammengefunden hatten.

Sie ist 17, als die Türkei-Reise ansteht. Einen Großteil der vergangenen Jahre hat sie damit verbracht, ihrer Mutter beizubringen, dass eine Jeans nur ein Kleidungsstück ist und nicht mit Fegefeuer bestraft wird.

Ihr Vater war schon Anfang der Neunziger ausgezogen. Die Mutter ging umso häufiger in die Moschee und betete zu Gott um die Kraft, ihre älteste Tochter heil in die Hände eines ehrbaren Mannes übergeben zu können. „Es war wie eine olympische Disziplin“, sagt Fatma. „Die Tochter muss durch alle Gefahren in Deutschland ins Ziel gebracht werden, ohne dabei die Ehre zu verlieren. Das Ziel ist ein guter Mann. Beim Scheitern droht die Hölle.“

Fatma ist ein hübsches Mädchen, das seine Geschichte leise erzählt und die Sätze mit „weischt?“ beendet. Sie sagt, sie sei heute Buddhistin.

Alle sprachen von der Urlaubsreise. Fatma wusste nicht, ob auch für sie ein Rückflug vorgesehen war. „Gleich nach der Ankunft in der Türkei bin ich im Haus meiner Tanten eingesperrt worden. Sie haben mir die Jeans weggenommen und einen langen Rock gegeben.“ Und das Kopftuch.

Sie schrie, weinte, drohte sich umzubringen. „Ich war so verloren. Wo sollte ich hin? Offenbar hatte eine Cousine erzählt, ich würde mich mit einem Jungen treffen. Das hatte meine Mutter dazu gebracht, mich in die Türkei abzuschieben.“ Sie sah noch, wie den Tanten ihr Pass gegeben wurde.

Dann fuhr die Mutter zurück nach Deutschland. Zum Abschied sagte sie, Fatma könne sich ja wieder scheiden lassen. „Ihr war es egal, ob ich glücklich werde. Hauptsache, sie wäre vor Allah nicht mehr verantwortlich für meine Sünden.“

Um die Zwangsheirat zu verhindern, erzählte Fatma, sie sei keine Jungfrau mehr. Die Tanten und eine Nachbarin zerrten sie zu einer Hinterhofärztin in Adana, der nächstgrößeren Stadt. Sie musste sich vor den Frauen ausziehen und breitbeinig auf einen Stuhl setzen. Alle schauten. Die Ärztin tastete ein wenig. Dann sagt sie: „Ich habe nicht die passenden Geräte, aber zu 80 Prozent bin ich mir sicher, dass sie keine Jungfrau mehr ist.“ Die Tanten zeterten: „Wie kannst du noch leben?“, riefen sie. „Wie kannst du einfach weiteratmen?“ Eine nahm Fatma zur Seite und sagte: „Anderen Mädchen ist das auch passiert. Sie haben Tabletten genommen.“

Als Fatma versprach, ihren angeblichen Freund zu heiraten, durfte sie zurück in den Schwarzwald. Dort ging ihre Mutter noch einmal mit ihr zur Frauenärztin. Das Ergebnis des Tests legte Fatma neben den Abschiedsbrief, bevor sie von zu Hause fortlief. Als Jungfrau.

Sie tauchte unter in einer Hilfseinrichtung für muslimische Mädchen. Es gibt sie in vielen größeren

Städten. In den Wohnzimmern hängen Poster von Yvonne Catterfeld, in den Regalen liegen Plüschtiere und kleine rote Herzen, auf denen „I love You“ steht. Wer es bis hierhin geschafft hat, kann anfangen, an sich zu denken. Wenn die Kraft noch da ist.

„Viele kehren wieder um“, sagt Fatma. „Ich war erst einmal gerettet. Das Problem war meine jüngere Schwester. Unsere Mutter hatte sich geschworen, alles zu tun, damit sie nicht so endete wie ich.“

Alles begann von vorn. Ihre Schwester Esma war zwölf im Jahr 1996, als es wieder Sommer wurde im Schwarzwald und die Ferien anstanden. „Esma musste sofort nach der Schule ihre Sachen packen und mit zum Flughafen kommen. Als sie unseren Onkel am Flughafen sah, bekam sie einen Verdacht und rannte fort.“

Der Onkel fing sie ein, sagte, es sei nur ein Türkei-Urlaub. Esma glaubte kein Wort. Aber sie stieg in den Flieger nach Adana und ahnte, sie würde Deutschland die nächsten Jahre nicht wieder sehen. Einen Satz der Mutter hatte sie im Kopf: „Ihr Fleisch gehört euch, die Knochen mir.“

„Das sagt man so. Ich wusste nur“, sagt Fatma, „dass meine Schwester in einer Koranschule ist. Ich habe mich so nach ihr gesehnt. Aber wenn ich unsere Mutter anrief, durfte ich nicht mal ihren Namen sagen. „Soll sie so werden wie du?“, hieß es dann.“

Esma war schon vier Jahre in der Türkei, als Fatma endlich erlaubt wurde, Geschenke zu schicken. In einem Paket versteckte sie ihre Telefonnummer.

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Sie telefonierten heimlich. Esma lebte in einer Koranschule, wo man auch beim Schlafen das Kopftuch aufbehalten und morgens um drei Uhr aufstehen musste zum Gebet. „Es war wie in einem schlechten Märchen. Ich fuhr in die Türkei und rief Esma an. Aber plötzlich sagte sie, sie wolle mich nicht sehen, weil ich kein Kopftuch trüge. So groß war der Einfluss, unter dem sie stand.“

Fatma brachte Geschenke und überredete die Hodschas, ihre Schwester kurz sehen zu dürfen: „Sie saß völlig eingeschüchtert vor mir und redete kaum etwas.“ Es blieb nur ein Weg.

Es war das Jahr 2002, und in einer schwäbischen Kleinstadt plante eine junge Frau, ihre Schwester zurück nach Hause zu entführen. Damit sie ihr Haar offen tragen kann und mal ins Kino gehen und sich mal aussuchen, mit wem sie leben möchte oder auch nicht.

Zurück in Deutschland, lieh Fatma sich einen Pass für ihre Schwester aus. Das ist nicht unüblich. Für deutsche Grenzer sehen türkische Mädchen alle ziemlich ähnlich aus. Dann rief Esma an, aufgelöst: Sie solle mit einem älteren Mann aus dem Nachbardorf verlobt werden. „Er wollte Esma, weil sie Kontakte nach Deutschland hatte, klar. Und meine Tanten wollten Esma so schnell wie möglich loswerden – bevor sie etwas macht.“ Bis zur geplanten Hochzeit waren es noch vier Monate. Fatma redete mit ihrer Mutter, bekam tatsächlich die Erlaubnis, in die Türkei zu ihrer Schwester zu fliegen, um, wie sie sagte, den Tanten bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen. Von ihrem Ersparten kaufte sie bei Woolworth Schnellkochtöpfe und Kaffeesets für die Tanten. Sie besorgte zwei Flugtickets und bestellte einen Mietwagen.

Aus Angst, dass ihre Familie den nächstgelegenen Flughafen absuchen könnte, hatte sie den Rückflug von Antalya gebucht, rund 500 Kilometer entfernt. Sie hatte eine dunkelblonde Perücke besorgt. Es war jetzt kein Märchen mehr, es war wie im Film.

Die Tanten schöpften keinen Verdacht. Bei der ersten Gelegenheit verließen die Mädchen das Haus. Zwei Straßen entfernt fanden sie ein Taxi, das sie zum Mietwagen bringen sollte. Esma hatte das Kopftuch ab-und die Perücke aufgesetzt. Im Taxi schwiegen sie. „Der Fahrer sollte nicht merken, dass wir aus Deutschland kommen. Das wäre sofort aufgefallen.“

Fatma steuerte den Mietwagen. Auf dem Weg nach Antalya kam ihnen ein Bus entgegen und drängte sie in einen Graben. Es dauerte Stunden, bis sie weiterfahren konnten. Dann klingelte das Handy von Fatma.

Es war die Tante. Sie würde jemanden finden, der sie aufspürte, auch in Deutschland. Der Bräutigam sei schon unterwegs. „Niemand hatte eine solche Flucht erwartet. Esma hatte vorher zu allem Ja und Amen gesagt. Unsere Tanten hatten immer gesagt, dass noch nie jemand aus ihrem Dorf entführt worden sei. Und jetzt noch von einer Frau.“

Im Flughafenhotel fragten sie sich die Daten in den falschen Papieren ab und übten die deutschen Sätze wieder ein. Esma zog sich die Kleider an, die ihre Schwester aus Deutschland mitgebracht hatte. Ihre Lippen schminkten sie sich mit Konturenstift passend zum Passfoto. Die Beamten am Flughafen in Antalya schöpften kaum Verdacht. Esma sagte, es sei ein altes Foto: „Ich werde es ändern lassen, sobald ich in Deutschland bin.“

„Sie haben sich aber verändert“, sagte der Beamte in Frankfurt. Esma antwortete auf Deutsch, wie sie es geübt hat. Ja, sie habe schon einen Termin beim türkischen Konsulat, um einen neuen Pass zu beantragen. Sie war nicht nervös. Sie sagt später, sie habe das noch gehabt, „dieses Gefühl von Deutschsein“.

Erst nach der Passkontrolle meldeten sie sich bei ihrer Mutter. „Verreckt auf dem Weg“, antwortete die.

„Sie war eben völlig verzweifelt“, sagt Fatma. „Ich glaube, unsere Mutter hatte einfach Höllenvisionen. Sie hatte Allah gegenüber versagt.“

Fatma versteckte ihre Schwester bei sich, schrieb Esma später in der Volkshochschule ein, um sie den Hauptschulabschluss machen zu lassen. Nach etlichen Behördengängen hat Esma jetzt eine Aufenthaltsgenehmigung, Fatma arbeitet bei einem Rechtsanwalt und macht das Abitur nach.

Die Schwestern leben in einer kleinen Wohnung in Süddeutschland, schlafen in einem Bett. Fatma hat ein Bild des Dalai Lama darüber aufgehängt, Esma den Kalender mit Gebetszeiten. Die Ältere trägt den Bauch frei, die andere das Kopftuch zu engen Jeans. Beide sind völlig verschieden. Aber frei, sich zu entscheiden…“

(Ausschnitt aus einem Artikel: DER SPIEGEL 47/2004, alle Rechte vorbehalten, Quelle)